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�ber Geschmack l�sst sich nicht streiten

Formenlehre

Über Geschmack lässt sich nicht streiten

Typografie und Grafikdesign unterliegen Regeln und formalen Ge­setzmässigkeiten, die wir alle gleichartig empfinden.

RALF TURTSCHI Wie oft schon mussten Gestalter das Argument hö­ren, dass Gestaltung doch Geschmackssache sei. Wie oft schon mussten sie sich diesem schwer wiegenden Argument mangels Schlagfertigkeit oder Überzeugungskraft beugen. Wie viel Ärger ist mit diesem laienhaft vorgebrachten Dominanzanspruch der Kunden verbunden! Wie viele Fehlentscheide gründeten auf der Kapitulation vor der «Geschmackssache»!

Genauso wie man sich bei Wein und Musik Geschmack zutraut oder beim Parfum, genauso verhält es sich beim Design. Wir haben zwar einen individuellen Geschmack, offenbar gibt es aber übereinstimmende Empfingungen, die sich objektiv begründen lassen. Mit der Zunge schmecken wir die fünf Geschmacksrichtungen sauer, süss, salzig, bitter, umami, und zwar alle gleichartig. Ähnlich verhält es sich mit Düften, wir vermögen durchaus einen Furz von frisch gebackenem Brot zu unterscheiden, und zwar alle gleichartig. Warum sollte es sich denn ausgerechnet in der visuellen Kommunikation anders verhalten? Warum erfinden wir denn Worte wie «Wolkenkratzer» und stellen uns dabei ein schmales hohes Geschäftsgebäude vor? Dabei geht es doch allen bei der Vorstellung etwa gleich! Die Begriffe waagrecht und senkrecht hängen mit unserer Erlebniswelt zusammen, oder haben Sie als Nicht-Extrem-Kletterer schon einmal den senkrechten Horizont erlebt? Waagrecht ist die Basis unseres Seins, senkrecht verkörpert die Erdanziehungskraft. Waagrecht ist ruhig, zur Ruhe gekommen, energielos – ein auf dem Boden liegender Stock etwa. Wenn eine Pflanze steht, ist sie wachsend, zum Himmel strebend, senkrecht, aktiv, dynamisch, voller Energie.

Nicht nur waagrecht und senkrecht, auch schräg nach unten oder oben löst ganz bestimmte Gefühle oder Asso­ziationen aus. In unserem Kulturraum lesen wir alle das Alphabet von links nach rechts, die Zeilen sind von oben nach unten angeordnet.

Unsere einheitliche Konditionierung hängt mit den Regeln zusammen, die sich eine Gesellschaft gibt oder die sich durch die Tradition herausbilden. Verkehrstafeln, Beschriftungen, Verpackungen – und schon stecken wir mitten in der Gestaltung. Rot bedeutet im Strassenverkehr «Verbot», Blau heisst «Da gehts lang». So erhält jede Farbe ihre besondere Bedeutung. Schwarz gilt bei uns als Farbe der Trauer, im karibischen Raum ist sie weiss.

Auch bei bewegten Bildern kennen wir Regeln oder Gesetze, denen wir uns nicht entziehen können. Das bewegte Bild wirkt faszinierender als das stehende Bild. In den Nachrichten wird mit einer Kamerafahrt vor dem Moderator vorgetäuscht, der Inhalt sei spannend, nur weil das Bild als bewegt wahrgenommen wird. Eine Mogel(ver)packung.

Wir sollten also nicht über die Geschmacksfrage sprechen, sondern über die Wirkung, die von der Gestaltung ausgeht. Die «Geschmackssache» ist immer individuell und damit subjektiv und fehlerhaft ausgeprägt, die Wirkung hingegen kann objektiv beschrieben werden. Und Gestaltungsarbeit richtet sich nicht an ein Individuum, sondern an eine Zielgruppe, welcher der Kunde oft nicht angehört.

In der visuellen Kommunikation haben wir es mit unterschiedlichen Elementen oder Dimensionen zu tun: Schrift, Linie, Fläche, Schmuck, Bild, Grafik und Bedruckstoff. Alle diese Elemente können ganz verschieden ausgeprägt werden. Bei einer Linie: ausgezogen, punktiert, farbig, dick, dünn, einfach, doppelt usw. Jedes dieser Elemente ist mit einer klaren Wirkung verbunden. Wir empfinden sie gleichartig. Eine Rechteck ist nun einmal spitz und eckig, ein Dreieck schmerzt beim Pieksen mehr als ein Oval. Wenn wir dieses wie ein Ei auf den Kopf stellen, dann wirkt es labil, es fällt optisch um, während ein Rechteck immer steht.

Über diese Grundregeln in der Formen- oder Farbenlehre gibt es genügend Literatur, wo man sich davon überzeugen kann, dass Gestaltung objektiven Gesetzmässigkeiten unterliegt, die wir alle gleichartig empfinden. Die hier aufgeführten Beispiele mögen dies belegen.

In der Theorie ist das alles gut zu verstehen. In der Praxis zeigt sich die Schwierigkeit dort, wo es darum geht, die verschiedenen Elemente in unterschiedlicher Ausprägung zu kombinieren. Auf einem Flyer steht ja nie nur Schrift, sind nie nur Linien vorhanden, es kommen immer mehrere Elemente vor. Diese stimmig zu kombinieren, ist die gestalterische Herausforderung. Gestalterische Werke zu beurteilen, ist für Laien wie Kunden ebenso schwierig wie die Tauglichkeit eines neuen Parfums zu ergründen.

Um das typografische Regelwerk in die Praxis umzusetzen, gibt es in der Edition Publisher das eben erschienene Lehrheft «TypoTuning» – Mit 13 wichtigen Typografieregeln Gestaltungsarbeiten verbessern. Mehr darüber auf den folgenden beiden Seiten.